Geschichte der Bildung

(nach Meyers Enzyklopädie)

Alle Bildungsbegriffe der europäischen Tradition bis zum Ausgang des 19.Jahrhunderts gehen auf antike Grundgedanken zurück. Ihre Wurzeln finden wir in der Sophistik und bei Platon, aber auch bei Paulus.

  • Sophistik
  • Platon
  • Paulus

In der Sophistik manifestierte sich zum erstenmal der Anspruch menschlichen Wissens auf Aufklärung und Autonomie als Macht. Dies als Gegensatz zu einer auf religiöser Bindung und überkommener Sitte beruhenden politischen Ordnung. Die Sophisten gelten als die ersten «Intellektuellen» und kämpften für ein neues kritisches Bewusstseins. Ihre Emanzipationsbewegung versuchten sie mit Hilfe der Rhetorik (antike Form der Publizistik) durchzusetzen.

Die rhetorische Bildungstheorie der Sophisten entwickelte den Kanon der «freien Künste», das sind jene Wissenschaften und Fertigkeiten, durch die ein Mann der politischen Freiheit sich als würdig erweist.

Die «freien Künste» stehen im Unterschied zu den Spezialkenntnissen der blossen Handwerker (Banausen).

Später werden die «freien Künste» entpolitisiert.

Der römische Gelehrte Varro hat diese nun in das System «Artes liberales» gebracht und damit das Fundament für die europäischen Bildungsinstitutionen bis ins 2o.Jahrhundert gelegt.

Platon vetritt in seinem Buch «Staat»: Der Mensch wird Mensch, wenn er sich selbst zum Abbild dessen gestaltet, was göttlich ist. Das wahre «Menschenbild» ist der Mensch als Götterbild. Das Göttliche erkennt der Mensch in der Betrachtung des Kosmos. Er findet seine wahre eigene Ordnung durch die Erkenntnis der wahren Ordnung und Harmonie der Welt (Mikrokosmos - Makrokosmos). In diesem Sinne ist Bildung nach Platon «universal».

Cicero vermittelt in seinem Werk «über die Pflichten» die Lehre, dass das wahre Wesen des Menschen sich in der Harmonie seiner «Person» manifestiert und beeinflusst damit vor allem die Renaissance (Castiglione) und die Goethezeit. Bildung wird nun als Humanismus verstanden.

Apostel Paulus beruft sich einerseits auf das alte Testament (1.Moses 1.27), wo geschrieben steht: «Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde. Zum Bilde Gottes schuf er ihn.» Paulus deutet die platonische Lehre von der «Angleichung des Menschen an Gott» im 2.Kor.3,17 und 18 wie folgt um: «Wir alle aber schauen mit unverhülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel und werden zu demselben Bilde umgestaltet von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, wie es vom Herrn ausgeht, der Geist ist.»

Aus dieser Stelle entfaltet sich die Geschichte des deutschen Wortes Bildung.

Die Mystiker beschreiben die Wiedergeburt des Menschen als «Ein-Bildung» in das Bild Christi.

Shaftesbury gab im 18.Jahrhundert der Platonischen Tradition durch neue Impulse neue Kraft.

Herder hat alle diese Traditionen aufgenommen, in Gärung versetzt, mit seinem Begriff der «Humanität» und der «Geschichte der Menschheit» in Verbindung gebracht und so das geistige Medium für das «Bildungszeitalter» des deutschen Idealismus geschaffen.

Im 19.Jahrhundert versteht sich das Bildungswesen als Machtinstrument des bürokratisch verwalteten Nationalstaates bürgerlichen Prägung. Eine Neuordnung von Schule und Universität gestützt auf Reformgedanken vom W.v.Humboldt soll Preussen an die Spitze einer neuen Weltgestaltung bringen. Durch staatlich sanktioniertes Berechtigungswesen sicherte die Bürokratie das Bildungsprivileg der «höheren Stände».

Bildung wird zur «Qualifikation» und zum «Vehikel des sozialen Aufstiegs».

Goethe hat später deutlich ausgesprochen, dass das aristokratische Ideal einer allseitig und harmonisch entfalteten Persönlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft nicht entspricht. Der Bürger muss sich in der «Zeit der Einseitigkeiten» zum «Organ» der Gesellschaft spezialisieren. Damit entsteht der das 19.Jahrhundert beherrschende Gegensatz von Bildung und Ausbildung (Berufsbildung). Im Neuhumanismus übernimmt die Berufsbildung die Rolle der Volksbildung. (Siehe auch Sophistik).

Die europäische Bildungstradition ist ihrer Ideologie nach platonisch, in Wirklichkeit ist sie aber von rhetorischen Bildungstheorie bestimmt. Diese Zweigesichtigkeit spiegelt sich in der Spaltung der Wissenschaften: Bei Platon stand im Mittelpunkt die Mathematik, bei den Sophisten die literarisch-politische Rhetorik. Daraus ergab sich später der Bruch, der die Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften und Technik trennte.

Der Gedanke der Bildung gewinnt erst am Ende des 18.Jahrhunderts seine pädagogische Relevanz, so dass wir nun auch von einer «Bildungstheorie» sprechen können. Der sogenannte Bildungskanon blieb von der Antike über die Renaissance bis zur Neuzeit wenig verändert. Im 19.Jahrhundert schafften die Naturwissenschaften den Durchbruch. Die Wissenschafter warfen in der Mitte des 20.Jahrhunderts der «Bildungstheorie» Unwissenschaftlichkeit vor. «Bildung» bezeichne etwas sehr Vages, Unbestimmtes oder etwas sehr Exklusives, Elitäres oder gar eine moderne Abkehr von Welt und Gesellschaft. Es könne nur eine «Geschichte der Bildung» , nicht aber eine wissenschaftliche Systematik geben. An Stelle der Bildung tritt ein wissenschaftlich umschreibbarer, empirisch zu erforschender «Gegenstand»: das «Lernen».(Pöggeler)

Die Bildungstheorie der deutschen.Pädagogik des 19.und 20.Jahrhunderts war einer kritischen Analyse der neu aufsteigenden sozialen Problemen der Mentalitäten, des geistigen Bedarfs und der politischen Strukturen der Industriegesellschaft nicht gewachsen. Der Fächerkanon konnte die Anforderungen der Wissenschaften nicht mehr abdecken. Der Versuch die formale Bildung der materiellen vorzuziehen (lernen zu lernen) scheint auch zu scheitern. Auch in der modernen Bildungsforschung gibt es noch keine Theorie, die den Prozess der kollektiven wie der individuellen Bewusstseinsbildung in ihrem Verhältnis zur Wahrheit von Erkenntnis und zur Verbindlichkeit von Verantwortung innerhalb der internationalen Gesellschaft des wissenschaftlich-technischen Zeitalters zu durchschauen und zu steuern erlaubt. Das Wort «Bildung» ist zu einer historisch-ideologisch Reminiszenz verkümmert, die der Erkenntnis höchst komplexer antropologischer Zusammenhänge im Wege steht.

Die Auseinandersetzung mit den Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen) auf der Volksschulstufe scheinen unbestritten zu sein.

Das Bewusstsein der neu entstehenden Weltgesellschaft wird das Wort Bildung mit neuen Inhalten füllen oder in anderen Begriffen kristallisieren müssen.